NATHALIE GRENZHAEUSER


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Nathalie Grenzhaeusers Landschaftsmalerei mit anderen Mitteln

Die alten Meister der Landschaftsmalerei gingen in die Natur oder machten sich zu längeren Reisen auf, wo sie vor Ort Skizzen anfertigten, die später, im Atelier, als Grundlage für sorgfältig aus komponierte Gemälde dienten. Nathalie Grenzhaeuser geht, mit heutigen Möglichkeiten, vergleichbar vor. Ihre "Skizzen" sind die Fotos, die auf Reisen in meist entlegene Gegenden entstehen. Mittels digitaler Bearbeitung werden daraus Kompositionen, die über den konkreten Ort und Zeitpunkt hin ausweisen und dem Ausgangsmotiv eine Allgemeingültigkeit verleihen. Dies geschieht durch gezielte Retuschen, Spiegelungen, Veränderungen in der Anordnung von Objekten oder Manipulationen der räumlichen Perspektive.

Auch die digitalen Manipulationen haben ihre historischen Vorläufer, zum Beispiel das "Claude-Glass". Britische Reisende, die im Laufe des 18. Jahrhunderts mehr und mehr die Schönheiten ihres Landes entdeckten, liebten es, die Natur durch einen gekrümmten, geschwärzten Spiegel zu betrachten, der auch aus dem schottischen Hochland eine italienische Ideallandschaft im Stile Lorrains machte.

Landschaftsmalerei ist nicht die Darstellung vorhandener Landschaften, sondern sie liefert die Vorgaben, nach denen Landschaft überhaupt als solche wahrgenommen wird. So geht es auch aus einer Anekdote über die Entstehung dieser Bildgattung hervor, die der Maler Edward Norgate um 1650 niederschrieb: "Ein Antwerpener Bürger, der ein großer ,Liefhebber' der Kunst war, besuchte nach seiner Rückkehr von einer langen Reise durch die Gegend von Lüttich und die Wälder der Ardennen einen alten Freund, einen sehr geschickten Antwerpener Maler, in dessen Haus er oft verkehrte. Er traf den Maler an seiner Staffelei an, wo er eifrig weiterarbeitete, während sein eben eingetroffener Freund, im Atelier auf und ab gehend, ihm von den Abenteuern seiner langen Reise erzählte - von den Städten, die er besucht, und von den schönen Aussichten, die er in einer seltsamen Gegend gesehen, die voll war von Felsengebirgen, alten Burgen, merkwürdigen Bauten usw. Die Erzählung, die immer länger wurde, entzückte den tüchtigen und flinken Maler so sehr, dass er, ohne dass sein herum wandernder Freund es bemerkte, seine Arbeit stehenließ und auf einer neuen Tafel das zu malen begann, was der andere erzählte, wobei seine Schilderung eine verständlichere und dauerhaftere Form an nahm als das gesprochene Wort des Freundes. Kurz gesagt: Als dieser mit seiner langen Erzählung zu Ende war, hatte der Maler das Werk zu einem solchen Grad an Vollkommenheit gebracht, dass der Freund, der zufällig hinschaute, sich vor Staunen gar nicht fassen konnte, als er diese Orte und Gegenden so lebendig vom Maler dargestellt sah, als er ob er sie mit seinen (des Freundes) Augen gesehen hätte oder sein Reisegefährte gewesen wäre..." 1
Ernst H. Gombrich zitiert diese Anekdote in seinem Aufsatz "Die Kunsttheorie der Renaissance und die Entstehung der Landschaftsmalerei" (1950). Er legt nahe, dass der Erzähler "durch seine Vertrautheit mit den Werken seines lieben Freundes schon auf die Sehenswürdigkeiten, die es zu bewundern gab, eingestellt war. Seine Aufzählung der landschaftlichen Schönheiten war durch die Dinge, die er von den Bildern seines Freundes her kannte, vorprogrammiert." 2

Wie frei von topographischen Realitäten diese Programmierung stattfinden konnte, machte die Ausstellung Böhmen liegt am Meer 1999 in der Hamburger Kunsthalle deutlich, die sich der "Erfindung der Landschaft um 1600" widmete: "Künstler wie Herri Bles, Pieter Bruegel d.Ä. oder Hendrick Goltzius nahmen ihre Studien nach der Natur nur zum Ausgangspunkt für neue, phantastische Landschaftsgebilde, die sich zumeist als Konstruktionen von einzelnen wirklichkeits Fragmenten entpuppen", was, so der Kurator Thomas Ketelsen, "angesichts neuester digitaler Arbeitsweisen fast modern anmutet." 3

Wenn digital bearbeitete, auf Fotografien basierende Landschaftsbilder nicht nur vom Verfahren her, sondern auch ästhetisch an die um 1600 entstandenen Gemälde erinnern, handelt es sich jedoch um Ausnahmefälle. Das offenkundige Collagieren von Versatzstücken findet eigentlich nur dann statt, wenn der fiktive, phantastische Charakter der Landschaft verdeutlicht werden, sie als Resultat der Imagination erscheinen soll. Damit eine Landschaft als "Abbild" der Natur angesehen und akzeptiert wird, muss sie die Ansprüche der fotografischen Wiedergabe erfüllen, oder dem, was zu früheren Zeiten als "naturgetreu" empfunden wurde.

Dies galt schon im 17. Jahrhundert in Holland, wie Bärbel Hedinger schreibt: "Den Zeitgenossen galt jenes Landschaftsgemälde als gelungen, das bloß den Eindruck erweckte, ganz und gar nach dem Leben entstanden zu sein, wobei dieser Effekt durchaus synthetisch herzustellen war." Was aussieht wie eine getreu abgebildete holländische Landschaft, ist letztlich eine Erfindung des "Natürlichen". Der "vermeintliche Naturalismus oder gar Realismus der Darstellungen ist in vieler Hinsicht ein idealisierender, poetischer Realismus, der Erfahrungstatsachen mit Erfindungen über formt und künstlerisch beglaubigt." 4

Die Poetisierung am weitesten trieb Jacob van Ruisdael, der nicht nur topographisch getreu erscheinende Ansichten Haarlems malte, sondern auch die Ruinen Landschaft seines berühmten "Judenfriedhofs", die eine schauerromantische Gothic Novel des späten achtzehnten Jahrhunderts angemessen illustrieren könnte. Ruisdael inspirierte viele Landschaftsmaler der Romantik, so auch Caspar David Friedrich.
Romantische Topoi sind auch dort prägend, wo bisher unbekannte Gegenden ins Bild gesetzt werden. Carleton Watkins gilt als fotografischer Entdecker des amerikanischen Westen. "Im Jahr 1861 erkundete er das Yosemite Valley, das erst 1856 entdeckt worden war - und fing auf großformatigen Platten jenes romantische Gefühl der Erhabenheit ein, das eine grandiose, unberührte Natur im modernen Betrachter erweckt." 5 Das Yosemite Valley hatte man vorher noch nie gesehen - aber auch für das Neue bedarf es der Wahrnehmungsmuster, auf die man es bezieht. 1878 fotografierte Watkins die "Agassiz Column", einen länglich hochragenden riesigen Stein, der im Vordergrund des Bildes steht wie ein Friedrichscher Baum. Ein direkter Einfluss Caspar David Friedrichs ist unwahrscheinlich, da dieser nach seinem Tod 1840 auch in Deutschland jahrzehntelang fast vergessen war. Aber es waren gleichwohl Bilder, die Watkins "im Kopf" hatte, die die Bilder der Orte "rahmten", an die er reiste und für die es keine eingespielte Bildtradition gab. Dies galt auch für den niederländischen Maler Frans Post, der zwischen 1636 und 1644 an einer Expedition nach Brasilien teilnahm. Seine südamerikanischen Landschaften sehen wie holländische aus, in die sich Palmen und exotische Tiere verirrt haben.

Solche "Übertragungen" finden sich immer wieder, und Lucius Burckhardt schreibt dazu treffend: "Was entdecken Entdecker? Sicherlich entdecken sie fremdartige Pflanzen und Tiere, auch interessante geologische Formationen, Küsten, Gebirge, Wasserfälle. Aber was sie sicherlich nicht entdecken, sind neue Landschaften, denn die Landschaft folgt ja einem vorgegebenen Code, ist ja eine kulturell entwickelte Sichtweise auf von uns allen schon Gesehenes." 6

Entdeckt Nathalie Grenzhaeuser "neue" Landschaften, wenn sie sich auf den Weg zum winterlich kargen Spitzbergen oder in die weiten Wüsten Australiens macht? Oder folgt auch sie bestehenden Codes? Was sehen wir auf ihren Bildern? Eine ruinöse Holzkonstruktion und weitere herumliegende Latten und Bohlen in einer Winterlandschaft (Treibgut, siehe S. 7), ein einsam in einer Einöde stehendes fensterloses Gebäude, dessen Funktion unklar bleibt (Winkelstation, siehe S. 13), eine Förderanlage hinter aufgetürmten Schneemassen (Schmelze, siehe S. 15), eine Hafenbucht mit Industrieanlagen im Hintergrund (Port Augusta Coal, siehe S. 39), einen offenbar durch Kohleabbau entstandenen Krater inmitten eines Bergmassivs (Leigh Creek Coal, siehe S. 43) oder ein schwer überschaubares, in verschiedene Richtungen führendes Gewirr an Förderbändern, das unwillkürlich an eine Achterbahn erinnert (Port Headland Iron Ore, siehe S. 61). Auf diesem Bild wird besonders deutlich, wie ein Ausgangsmotiv durch Vervielfältigung und Addition verschiedener Blickachsen in einen kaleidoskopisch aufgesplitterten Raum verwandelt wird, der auf keine einheitliche Perspektive mehr zurückzuführen ist.

Dies scheint bei Big Bell Loop (siehe S. 69) auf den ersten Blick anders zu sein. Ungewöhnlich wirkt zunächst nur, wie zahlreich die Dämmmatten des Dachgeschosses auf dem Fußboden des halbzerstörten Gebäudes herumliegen. Aber der geschlossene Raum, in den wir hineinzublicken scheinen, ist nicht der vor Ort sichtbar gewesene. Bei genauerem Hinsehen entdeckt man einzelne Motive an einer anderen Stelle wieder und stellt schließlich fest, dass es sich um eine Diagonalspiegelung handelt, der Bildraum also gleichsam auf sich selbst geklappt ist.

Solche Verfahren der Verdoppelung und Vervielfältigung lassen sich mit Manipulationen der äußeren Natur vergleichen, wie`sie beispielsweise Robert Smithson 1969 mit seinen Mirror Displacements vollzogen hatte. Statt wie durch das Claude-Glass die Natur im Spiegel zu betrachten, stellte er Spiegel in verschiedenen Anordnungen in die Natur hinein, so dass die gespiegelten Ausschnitte der Umgebung die reale Landschaft gleichzeitig ergänzten und verdoppelten, aber optisch mit ihr tendenziell verschmolzen. Nathalie Grenzhaeuser stellt die Spiegel gleichsam ins Bild selbst, so dass es für die Betrachter noch schwieriger ist, die unterschiedlichen Ebenen voneinander zu trennen.

Wenn man auf das Wahrnehmungsmuster "Land Art" eingestellt ist, kommen auch bei anderen Bildern Grenzhaueusers Gedanken an Werke Robert Smithsons auf, so bei Andamooka Opal 1 (siehe S. 49) an die Kreisform der Spiral Jetty. Die Maschinerie in der Grube erinnert zudem an die Baufahrzeuge, die in Smithsons Film zur Spiral Jetty an der Aushebung und Aufschüttung der Spirale arbeiten.
Die internalisierten "Codes", die bei Grenzhaeusers Bildern wachgerufen werden, sind nicht vorrangig die Bildkompositionen von Claude Lorrain oder anderen Klassikern der Landschaftsmalerei. Darin unterscheidet sich ihr Vorgehen deutlich etwa von dem anderer Künstler ihrer Generation, etwa Beate Gütschow, die vor einigen Jahren ebenfalls mit sorgfältig digital bearbeiteten Fotografien an die Öffentlichkeit trat. Bei Gütschows landschaftlichen Motiven mit subtil arrangierten Baumgruppen, Fernblicken und kleinen Figuren fühlt man sich an Gemälde von Lorrain oder John Constable erinnert. Grundlage dieser Bilder sind Fotos, die Gütschow auf Streifzügen durch die norddeutsche Natur gemacht hat und die sie zu fiktiven Ideallandschaften zusammen collagierte. Ihre Bilder sind, auch anders als bei Grenzhaeuser, nicht mehr auf reale Orte zurückführbar.

Auch wenn keine direkten Anleihen aus der Kunstgeschichte vorliegen, heißt das nicht, dass die weiten, kargen, oft ohne kompositorische Binnenrahmung ins Bild gesetzten Szenerien Grenzhaeusers außerhalb ihrer Echokammer stünden. Zu nennen wären die holländischen Flachlandschaften von Philips de Koninck aus dem 17. Jahrhundert oder der radikal leer gefegte Bildraum in Friedrichs Mönch am Meer. Das "romantische" Gefühl erhabener Größe und Weite, wie es bei Watkins' ersten Fotos des amerikanischen Westens aufkommt, hat sich im 20. Jahrhundert zunehmend über das Kino vermittelt: Das Road Movie als Bilderlieferant ist wohl noch prägender geworden als der kunstgeschichtliche Motivvorrat, der bei endlosen Fahrten auf den Highways gleichwohl im Hintergrund mitreist.

Dies gilt auch für den Fotografen Richard Misrach, der sich explizit auf die Tradition der amerikanischen Romantik beruft. In seiner in den 1990er Jahren entstandenen Serie Desert Cantos setzt Misrach in opulenten Farben Landschaften im Mittelwesten der USA in Szene, in denen Militärübungen und Atomversuche stattfanden, von denen die Öffentlichkeit in vielen Fällen bis heute nichts weiß. Die betörend schönen Szenerien sind verseucht, kommen als Lebensraum nicht mehr in Frage. Misrachs Überästhetisierung verdoppelt gleichsam den Rahmen, den eingebürgerte Wahrnehmungsgewohnheiten längst geschaffen haben, und der vom klassischen Landschaftsgemälde zum Fotomotiv und zum Filmset führt. Und der Filmset kann tödlich sein. An Hollywood-Westernproduktionen teilzunehmen, die in verstrahlten Gegenden gedreht wurden, bedeutete ein stark erhöhtes Krebsrisiko.

Wie Misrach den dokumentarischen, die ökologischen Probleme betreffenden Aspekt mit dem bewussten Einsatz eingespielter Bildmuster verbindet, ist in vieler Hinsicht mit Grenzhaeusers Vorgehen vergleichbar. Misrachs Fotos bleiben jedoch mehr oder weniger "dokumentarisch", weil die Mittel der ästhetischen Inszenierung auf die "Beleuchtung" der ausgewählten Motive beschränkt bleiben.
Seine Bilder sind keine Collagen, auch verzichtet Misrach auf stimmungsmäßige Dramatisierungen, wie sie Nathalie Grenzhaeuser beispielsweise durch einen mystisch leuchtenden Himmel erzeugt, der Die Arche (siehe S. 25) in einem anderen Licht erscheinen lässt, als Grenzhaeuser es vor Ort auf Spitzbergen vor fand. Derartige retuschierende Eingriffe wurden Ende des 19. Jahrhunderts sehr beliebt, als man Nuancierungen und Unschärfen der Stimmungsmalerei ins Medium der Fotografie zu übertragen suchte. Dadurch erfolgt eine "partielle Preisgabe des Illusionsraums, der sich dafür in einen Stimmungsraum verwandelt". 7

Unter den Dokumentarfotografen war es Frank Hurley - auf den sich Nathalie Grenzhaeuser ausdrücklich beruft - der seine auf Expeditionen und während der beiden Weltkriege entstandenen Fotos häufig mit hinein collagierten und - retuschierten dramatischen Effekten versah. Man mag aber auch an einen gemalten Himmel denken, wie er bei frühen Studioproduktionen die Szenerie eines Western- oder Historienfilms stimmungsvoll krönte, aber seine Herkunft aus der Theaterkulisse nie leugnen konnte.

Nathalie Grenzhaeuser verlässt nie die empfindliche Balance, die sie zwischen dem dokumentarischen, dem abgebildeten Ort verpflichteten Bild und der Verselbständigung der ästhetischen Inszenierung herstellt. Ihre Bilder zeigen einerseits einen realen Ort, andererseits machen sie auch die Bildtraditionen und Codes deutlich, die auch Motive, die noch nie oder bisher kaum fotografiert wurden, immer schon mitrahmen. Auch wenn ihre Fotos trotz aller Bearbeitungen weit "naturgetreuer" sein dürften als die Landschaftsbilder des Antwerpener Malers, welche die Wahrnehmung seines Freundes immer schon vorprogrammiert hatten . Daran, dass wir immer schon Bilder im Kopf haben, wenn wir Landschaften sehen, hat sich nichts geändert. Und unter den Künstlern, die uns immer wieder darauf aufmerksam machen, gehört Nathalie Grenzhaeuser zu den subtilsten.

Ludwig Seyfarth

Veröffentlicht in Trespassing, Verlag für Moderne Kunst, 2011.

 

1 Ernst H. Gombrich, Die Kunst der Renaissance I. Norm und Form, Stuttgart 1985, S. 151.
2 Ebd.
3 Thomas Kelesen in: Bömen liegt am Meer. Die Erfindung der Landschaft um 1600. Ausst. Kat. Hamburger Kunsthalle 1999, S. 8.
4 Die kleine Eiszeit. Holländische Landschaftsmalerei im 17. Jahrhundert. Ausst. Kat. Altonaer Museum Hamburg 2002, S.11.
5 Françoise Heilbrun, in: Michel Frizot (Hg.), Neue Geschichte der Fotografie, Köln 1998, S.165.
6 Lucius Burckhardt, Warum ist Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft, Berlin 2006, S.121.
7 Wolfgang Ullrich, Unschärfe, Antimodernismus und Avantgarde, in: Peter Geimer (Hg.), Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt am Main 2002, S.392.


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