NATHALIE GRENZHAEUSER


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Randzonen / mittendrin

Nathalie Grenzhaeuser zieht es in Gegenden, die man auf den ersten Blick als Randzonen auf der gegenwärtigen geopolitischen Weltkarte bezeichnen könnte. Solch ein Ort ist die Insel Spitzbergen, die unter norwegischer Souveränität steht und sich im gleichnamigen Archipel nördlich des Polarkreises befindet. Drei Mal ist die Künstlerin dorthin gereist und hat bei ihrer letzten Reise 2009 vor allem Pyramiden (russisch: "???????) fotografiert, eine von Russland 1998 aufgegebene Kohlebergbausiedlung, die inzwischen als ghost town firmiert und via Internet virtuell zu begehen ist.

Eine andere etwas abseits der politischen Aufmerksamkeit gelegene Insel ist Kuba. Der sozialistische Staat liegt im Archipel der Antillen in der Karibik. Hier haben sich Grenzhaeusers Beobachtungen 2013 vor allem auf die kubanische Provinz Guantánamo konzentriert, die oft in verkürzender Weise mit dem US- amerikanischen Gefangenenlager gleichgesetzt wird. Zu diesem, der Guantanamo Bay Naval Base, ist zivilen Personen der Zutritt jedoch verwehrt – auch dies eine Geisterstadt im übertragenen Sinn, die weltweit bekannteste vielleicht.

Die Auseinandersetzung mit beiden Orten folgt auf die Beschäftigung der Künstlerin mit architektonischen und industriellen Großprojekten, die aus hochgespannten Zielen resultieren, auf extreme Bedingungen reagieren und eine ihnen eigene hypertrophe Gestalt hervorbringen. Beispiele sind ihre Serien zur postmodernen Bürostadt La Défense im Großraum Paris (2001) und über Bergbauminen in der australischen Wüste (2008-2011). Bereits diese Zeugnisse des zivilisatorischen Prozesses erscheinen uns in Grenzhaeusers fotografischen Bildern trotz ihrer Monumentalität und technischen Überlegenheit seltsam fragil und fragwürdig. In den Serien Pyramida und La Marea wandeln (die Flut) ihre bildnerischen Welten in Räume der Leere und der Vergänglichkeit, in denen die Zeit stillzustehen scheint. Vor dem Hintergrund des globalen politischen und ökonomischen Wandels, der von zunehmender Rasanz bestimmt ist, wirken diese Randgebiete anachronistisch. Die Phase ihrer scheinbaren Ruhe nutzt die Künstlerin und sucht im bildlichen Vergleich nach Zusammenhängen und Kräften, die möglicherweise auf ihre Zukunft hindeuten.

Eine Gemeinsamkeit von Pyramiden und Kuba liegt in ihrer sozialistischen Geschichte, die in Kuba bis in die Gegenwart reicht. In beiden Serien fungieren Lenin-Denkmäler als ideologische Megazeichen. Die wenigen weltweit verbliebenen Monumente vom Führer der russischen Oktoberrevolution erinnern – 25 Jahre nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Gesellschaftssystems – an die politische Vision, durch Revolution und geänderte Machtverhältnisse Geschichte neu zu schreiben. Zugleich symbolisieren sie das Überlebte einer historischen Periode. Diesen gedanklichen Raum zwischen Utopie und deren Scheitern spannt Nathalie Grenzhaeuser bildnerisch auf, wenn sie die Leninbüste im verlorenen Profil auf leerem Platz vor der Kulisse des Bergpanoramas zeigt (Lenin, Seite 32) oder als markante felsähnliche Form, die Dauer symbolisiert und doch langsam verwittert (Lenin I, Seite 5).

Weitere Bildmotive von Pyramiden rücken die Wahrnehmung der posturbanen Landschaft und den von ökonomischen Interessen geprägten Umgang mit der Natur stärker in den Blick. Die baulichen Hinterlassenschaften rufen einmal mehr die Frage auf, zu welchen Bedingungen es sinnvoll ist, städtische Standards unter extremen klimatischen Bedingungen langfristig zu gewährleisten. Möglich war das geschützte, autarke Leben in einer unwirtlichen Zone, mit beispielsweise Gewächshäusern und Schwimmbad, nur auf Kosten eines hohen Energieverbrauchs. Noch ein Jahrhundert zuvor waren Expeditionsreisen an den äußeren unmenschlichen Bedingungen gescheitert.

Grenzhaeusers Perspektiven führen die Fremdartigkeit der funktionalen Bauweise, die ihre Umgebung zu negieren scheint, eindrucksvoll vor Augen. Im Tiefensog bildbestimmender Diagonalen stößt der Blick bei Außenaufnahmen auf die Barriere des unwirtlichen Bergmassivs, das durch seine schiere Größe auf die Hybris der urbanen Gründung an einem solchen Ort hindeutet. Dieser funktional gegliederte Raum, dessen Überlegenheit darauf fußte, Überleben zu gewährleisten, ist in Grenzhaeusers Fotografien mit dem labyrinthischen symbiotisch verbunden. Ein leerstehendes Zimmer ist durch Ausblicke in mehrere Richtungen perforiert (Speicher, Seite 45) und Durchblicke verfangen sich in Tunneln oder in Spiegelungen. Die Innenansicht eines der beiden Förderschächte am Berg (Schacht, Seite 29) entspricht dem endlos scheinenden Flur eines der Wohnheime der Siedlung (Crazy House, Seite 41), einer "Wohnmaschine" der 1970er Jahre, die kostengünstig und schnell gebaut Raum für viele bieten sollte. Beide Motive sind typologisch von der Logik des Fließbandes beeinflusst und erinnern an Charlie Chaplins Film Modern Times 1. Die Künstlerin lässt den Schock und die Abwehrreflexe, den diese Beschleunigungsmaschine einst auslöste, in Anspielungen auf Abgründiges nachbeben.

Am Ende des Schachtes oder hinter einem leeren Türrahmen lauert Dunkelheit. Dem Dunklen antwortet das Überhelle: Lichtstrahlen, die durch Fenster und Türen dringen und die Räume illuminieren. Die Sonne scheint auf Spitzbergen nur während kurzer Sommer. Ihrem schönen Schein haftet in den Bildern etwas Theatralisches und Trügerisches an, denn Helligkeit schützt mitnichten vor Gefahren aller Art wie beispielsweise hereinbrechende Nebel und plötzliche Wetterumschwünge. Hier sind die digitalen Bearbeitungen zu vermuten, mit denen die Künstlerin ihre analogen Aufnahmen verändert und im Ausdruck schärft.

Spuren der Verlassenheit sind ein weiteres narratives Element, den dystopischen Charakter des Ortes zu untermalen. Im ehemaligen Büro des Direktors führen im Viertelkreis aufgestellte Stühle eine Beckettsche Wartesituation auf (Schnee, Seite 33). Wo sind diejenigen, die hier gesprochen und gehandelt haben? Weiße Farbpartikel legen sich wie eine Federdecke der Stille auf die Oberflächen. Andernorts modern Reste von Dämmmaterial vor sich hin (Deponie, Seite 36) und bilden eine amorphe Masse, die stärker als die zerborstenen Holzstege (Steg, Seite 43) auf die Unwägbarkeit des Grundes hindeutet.

Kuba stellt hinsichtlich seiner geografischen Bedingungen den Gegenpol zum eisigen Pyramiden dar. In der tropischen Klimazone gelegen, ist es fruchtbar und gesegnet mit einer reichen Flora und Fauna. Schon sein Entdecker Kolumbus sprach in seinem Tagebuch - so erzählt es nicht nur der Film Soy Cuba von Mikhail Kalatozov 2 - vom schönsten Land, das Menschenaugen je erblickt hätten. Aber die Insel wurde kein Ort der Kontemplation und die Hybris ist hier mit Ausbeutung und der Vernichtung der landeseigenen Kultur verbunden. Seit dem 17. Jahrhundert entwickelte sich Kuba unter der spanischen Kolonialmacht zum wichtigen Anbaugebiet von Zuckerrohr, Tabak und Kaffee und damit zum Lieferanten für europäische Luxusprodukte. Infolge der rücksichtslosen Kolonialpolitik wurde die indigene Bevölkerung fast völlig vernichtet und um die Produktion zu gewährleisten, brachte man westafrikanische Sklaven auf die Insel.

Die öffentlichen Spiel-, Sport- und Erholungsstätten sowie die Gedenkorte an den Kampf für die Unabhängigkeit, die Nathalie Grenzhaeuser für ihre Serie fotografiert hat, sind Zeugnisse des Bruchs mit dieser Geschichte sowie des sozialen Wandels. Mit der sozialistischen Revolution von 1959 unter Fidel Castro sollte der Reichtum gerechter verteilt werden. Kulturelle Angebote für die Masse der Bevölkerung galten neben kostenloser Bildung und Gesundheitsversorgung lange als Beweise eines besseren Lebens. Doch autoritäre politische Entscheidungen und verordnete Planwirtschaft stehen den globalen Entwicklungen spätestens seit 1989 entgegen. Auch Kuba ist Part neuer Bündnisse und Kräftekonstellationen, die innenpolitische Veränderungen evozieren und so steht das Land erneut im Spannungsfeld einer Öffnung nach außen und der Gefahr eines neokolonialen Einflusses.

In dem die Serie La Marea einleitenden Bild einer sich an der Kaimauer brechenden Welle, deren spritzende Gischt vor der Dunkelheit leuchtet und die menschenleere Straße kontrastiert, formuliert die Künstlerin die unterschwelligen Ängste zu einer bildstarken Metapher. Dieser Moment einer unberechenbaren Kraft erinnert an Hokusais berühmten Holzschnitt Die große Welle vor Kanagawa (1830), der ein gutes Vierteljahrhundert vor der - von den Amerikanern erzwungenen - Öffnung Japans gegenüber dem Westen entstanden ist.

In den folgenden Motiven der Serie La Marea durchdringt sich das mythologische Bild einer Insel in aufgewühlter See mit dem der Insel als Paradies. Abgestorbene Palmenblätter, kahle Böden und derangierte Gebäude als sichtbare Spuren der heftigen Zerstörungen von Hurrikan Sandy im Oktober 2012 konterkarieren stilisierte Blüten und Tiermotive, welche Brunnenanlagen, Bühnen und Spielplätze schmücken. Die den Folgen des Sturms geschuldete Abwesenheit von Menschen in den einstigen Ferienresorts und Touristenattraktionen von Baconao, erlaubte es der Künstlerin, eine ähnliche Perspektive einzunehmen wie in Pyramiden. Dem Erkunden des posturbanen Raumes dort entspricht hier das Aufspüren einer Gesellschaft am Ende der Utopie. Monumentale architektonische Gesten, die das Pathos der Vergangenheit einschließen, umgibt die gleiche Atmosphäre der Stille wie die Orte für kleine, alltägliche Freuden.

Auf der bildstrukturellen Ebene fokussiert sich die Künstlerin auf Kreisformen, Drehmomente und körperhafte Öffnungen, die das Inselmotiv wie in einem musikalischen Reigen anklingen lassen und variieren. Architekturen werden als hieroglyphenartige Solitäre gezeigt, die große, leere Binnenräume einschließen (Estadio, Seite 23). Der leeren Tribüne, die sich wie ein riesiges Maul öffnet, gleicht der aufgerissene Schlund eines überdimensionierten Spiel-Fisches. Im Wechsel von Nahsicht und Panoramaansicht und im Einsatz verschiedener Kameraoptiken verkehren sich zudem die Größenverhältnisse. Auf die krakenhafte Überhöhung des Denkmals für den General des Unabhängigkeitskrieges Antonio Maceo Grajales (Maceo, Seite 19) antworten eine miniaturisierte Rakete auf einem Spielplatz (Shuttle, Seite 13) und ein in der Entfernung winzig anmutendes Leninrelief am Rande eines Baseballfeldes (Lenin II, Seite 6). In dieser Art von Bedeutungsperspektive, in der vormals Großes schrumpft und an Substanz verliert, scheinen Sinnverluste auf, die auf Umwertungen hindeuten. Das Kopfüber zweier Jugendlicher ins Wasser - ein synchroner Rückwärtssprung (Los niños del futuro, Seite 7) - lässt sich als aktuelle Version vom Bild der verkehrten Welt deuten. Es steht jedoch auch in der Tradition der Avantgarde-Fotografie, in der das Motiv des kraftvollen Sprungs die Hoffnung auf eine bessere Zukunft symbolisierte.

Sowohl auf Kuba als auch auf die Arktis - deren Rohstoffe unter dem Eis bereits neue Verteilungsszenarien auslösen - kommen Veränderungen zu. Mit dem Ausstellungstitel Gezeiten verweist Nathalie Grenzhaeuser auf ihr künstlerisches Untersuchungsfeld: die Anfänge, Höhe- und Umkehrpunkte sozialer Utopien im Kraftfeld ökonomischer und politischer Realitäten.

Jule Reuter

Erschienen in Gezeiten, Verlag des Saarländischen Künstlerhauses Saarbrücken 2014.

 

1 In dem Film Modern Times, den Charlie Chaplin zwischen 1933 und 1936 in den USA drehte, geht es um die Folgen der Weltwirtschaftskrise wie Massenarbeitslosigkeit nach dem Börsencrash von 1929 und um Veränderungen in der industriellen Welt durch die Ökonomisierung der Fertigungsprozesse. Das Fließband gibt fortan den Takt für die menschlichen Bewegungen vor. In einer der Schlüsselszenen des Films wird der Mensch, in der Figur des Tramps, in den unbarmherzigen, mechanischen Kreislauf hineingezogen und durch das Räderwerk getrieben.
2 Soy Cuba (Ich bin Kuba) entstand 1964 als sowjetisch-kubanische Koproduktion während des Höhepunkts der Kuba-Krise. Der russisch-georgische Regisseur Mikhail Kalatozov drehte in spanischer Sprache und mit kubanischen Schauspielern. Der Film erzählt in suggestiver Bildsprache mit ungewöhnlichen Kamerafahrten, die an die sowjetische Filmavantgarde anknüpfen, in vier Episoden von der kämpferischen Zeit der Revolution mit ihren Widersprüchen und moralischen Herausforderungen. Er wurde vom kubanischen Publikum kritisch aufgenommen und verschwand für Jahrzehnte im Moskauer Filmarchiv. Erst Anfang der 1990er wurde Soy Cuba von Francis Ford Coppola und Martin Scorsese für das internationale Kino wiederentdeckt.
 
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